Meine vier Circle-Kolleginnen und ich befinden uns in Woche drei der WOL Experience. So langsam komme ich in den Modus und denke oft an mein Ziel. Das Ziel, meine Personal Brand zu definieren und auf dem Weg dahin einige Dinge auszuprobieren. In der Zwischenzeit habe ich mein Netzwerk erweitert, Leute einfach angesprochen und an diversen Webinaren zum Thema teilgenommen. Noch habe ich Spaß dabei und bewege mich stetig weiter auf mein Ziel zu.
Die Wochen zwei und drei stehen unter dem Motto „Aufmerksamkeit entwickeln“ – für sich und andere. Aufmerksamkeit hat dabei auch immer etwas mit Geduld zu tun, denn bevor man aufmerksam sein kann, muss man Eile, Druck und alle Aufgaben beiseiteschieben. Oftmals bedarf dies eines guten Zeitmanagement. Die Aufgabe diese Woche; vereinbare in den nächsten vier Wochen regelmäßige Termine mit dir selbst, die im Zusammenhang mit deinem persönlichen Ziel der WOL Experience stehen. Also Zeit einplanen, um sich treiben zu lassen. Klingt erst einmal skurril … ist es irgendwie auch.
Los, mach schon. Du vertrödelst schon wieder so viel Zeit. Meine größten Antreiber sind „Beeil dich“ und „Streng dich an“. Die zwei befeuern sich immer ganz gegenseitig und die Kombination kann ziemlich toxisch sein. Meine Tage sind normalerweise komplett durchgetaktet und wenn ich mir nicht aktiv Zeit für Sport oder Pausen einplane, lasse ich beides ausfallen. Vor allem aber, weil meine Arbeit und die Themen, mit denen ich mich beschäftige, mir so viel Spaß machen. Trotzdem - ein paar Wochen durchpowern, einiges an emotionalem Stress, latenten existentiellen Ängsten und dann auch noch die soziale Isolation aufgrund von Corona … diese Woche merke ich, dass mir die Puste ausgeht und mein Körper mir sagt, dass ich einen Gang runterschalten soll. Ich lerne ja dazu, also gemacht, getan. Diese Woche gönne ich mir längere Pausen, ausgiebige Spaziergänge in der Natur und schiebe Aufgaben auf die nächste Woche - auch wenn mir bei letzterem eine Stimme zuflüstert: „Was Du heute kannst besorgen, …“. Innerlich stellt sich das Gefühl von „Ich müsste doch …“ ein. Aber wer sagt eigentlich, was ich muss und was nicht? Genau, ich selbst!
Eines Morgens bin ich vor der Dämmerung wach und nach einigem Hin- und Herwälzen schnappe ich mir meine Laufschuhe, lege einen Podcast auf die Ohren und jogge eine Runde durch den Park. Die Morgendämmerung krabbelt langsam in die Stadt hinein, die Vögel zwitschern und da fällt das entscheidende Wort im Podcast. Geduld. Etwas, von dem ich meist zu wenig habe. Geduld ist nicht wie Intelligenz oder Persönlichkeitsdispositionen genetisch veranlagt, sondern kann glücklicherweise erlernt werden. Wir können uns darin üben ‘den Geduldsfaden im eigenen Kopf wieder dicker werden zu lassen‘.
Im Laufen habe ich mich schon einige Male versucht, bisher hat es nicht den Sprung auf’s Treppchen meiner liebsten Sportarten geschafft. Warum? Ich habe zu wenig Geduld mit mir. Wenn ich Läufer sehe, sind die immer schon total fit und vor allem schnell unterwegs. Dass die auch mal bei Null angefangen haben, blende ich gerne aus. In meinen Augen waren die von vornherein schon so schnell. Demnach baue ich mir zu viel Druck auf, ebenfalls von Anfang an schnell laufen zu müssen und dabei auch noch absolut blendend aussehen zu müssen. Dass das der totale Humbug ist, weiß ich ja eigentlich auch.
Das mache ich jetzt anders. Diesmal sage ich mir, dass ich die Zeit einfach genießen möchte und wenn ich eine Pause brauche, mache ich eine Pause. Mir wird klar, dass ich mir die Freude am Laufen bisher immer selbst genommen habe, indem ich mich über eine App getrackt habe und schon beim 2. Mal Laufen das Gefühl haben wollte, morgen einen Marathon schaffen zu können. Hat sich natürlich nie eingestellt. Erinnert mich irgendwie an mein Thema mit den Zielen …
Heute klappt es sehr gut, auch wenn mein Kreislauf morgens normalerweise nicht mal 20 Treppenstufen ohne Schnaufen und Herzklopfen aushalten mag. Ich nehme mir sogar die Zeit, von einer kleinen Anhöhe den Sonnenaufgang zu bestaunen. Neben mir zwei Hobbyfotographen, die extra nur für diesen wundervollen Anblick früh aufgestanden sind. Mich bringt sonst kaum etwas so früh aus dem Bett, auch wenn ich die Morgenstunde liebe und mir wünschte, ich würde jeden Morgen so früh aus dem Bett springen.
Zurück zu Hause schiebe ich noch eine Yoga-Einheit hinterher, gehe duschen und genieße anschließend schon vor 8 Uhr meinen Kaffee und das Frühstück auf der Couch. Der Tag startet fantastisch. Mit Energie geht’s an die Arbeit und vor Mittag habe ich mein Tagespensum bereits fast abgearbeitet. Unfassbar! Also raus und die Sonne genießen, schließlich ist Frühling und ich kann mir meine Zeit frei einteilen.
Ich bin mit einer Freundin zum Mittagessen verabredet. Nach zwei Stunden intensivem und inspirierenden Gespräch mache ich mich auf den Rückweg. In meiner Lieblings-Eisdiele hole ich mir noch ein Eis und schiebe mein Rad über einen alten, wunderschönen, grünbewachsenen Friedhof. Ich weiß, klingt ein bisschen morbid, aber ich liebe die beruhigende Atmosphäre, die alten Geschichten, die die Grabsteine nur erahnen lassen, die Abgeschiedenheit und die Entschleunigung. Der Lärm der Stadt bleibt vor den hohen Backsteinmauern zurück.
Eine alte Parkbank in der Sonne lacht mich an. Ich lege mich drauf, strecke meine Glieder aus und starre von unten in den wolkenlosen, tiefblauen Himmel. Nur die Äste der riesigen Eichen und Kastanien ragen mit ihrem Blätterkleid in mein Sichtfeld. Ich spüre die Sonne auf der Haut und merke, wie sich meine Gesichtsmuskeln durch die Wärme entspannen. Die Vögel zwitschern, ich höre Kinder lachen und einen Raben neben mir den Mülleimer nach Essensresten durchstöbern. Mit geschlossenen Augen richte ich meine Aufmerksamkeit nacheinander auf die Dinge, die ich höre. Ich bin ganz im Moment.
Ich weiß nicht, wie lange ich so daliege. Irgendwann verschwindet die Sonne hinter der großen Baumkrone, ich schnappe mein Rad und schiebe es noch einmal quer über den Friedhof. Da kommt mir ein alter Herr, sein Rad wie ich schiebend, entgegen. Er schaut mich an und sagt: „Wertes Fräulein, darf ich Sie etwas fragen“? „Selbstverständlich“ entgegne ich und freue mich, dass mir die Zeit heute nicht im Nacken sitzt und ich mir die Zeit für den Mann nehmen kann. Der Mann mit ausländischen Wurzeln fragt: „Sagen Sie, ich verstehe es einfach nicht. Ich bin Akademiker und lerne Deutsch, aber Ihre Sprache macht manchmal keinen Sinn. Warum heißt es ‚Ich hasse es zu warten‘ und nicht ‚Ich hasse zu warten‘? Warum wird hier das Pronom ‚es‘ verwendet“? Ich bin verblüfft, leicht irritiert und ein bisschen überfordert mit der Frage. Zum einen, weil meine Schulzeit auch schon ein paar Tage her ist und zum anderen, weil er mir mit dem Satz aus der Seele spricht. Ich hasse es einfach wirklich zu warten!
Bevor ich in die Bedroullie komme, überhaupt antworten zu müssen, führt er seinen Monolog weiter. Ihn wundere das Phänomen so sehr, dass er immer mal wieder Einheimische anspräche, um ihnen diese Frage zu stellen. Er holt kleine, dichtbeschriebene Karteikarten aus der Tasche und verifiziert nochmal seine Aussage. Ja, für ihn mache das Pronom da keinen Sinn. Er erzählt so leidenschaftlich und ehrlich, dass es mich nicht einmal stört, dass ich im Grunde nicht zu Wort komme. Irgendwann schaffe ich es doch, ihm den Sinn des ‚es‘ zu vermitteln. Auf seinem Gesicht breitet sich Erleichterung und tiefe Dankbarkeit aus. Endlich habe ihm jemand geholfen, das Geheimnis zu lüften. Vielleicht sagt er das auch zu jedem, aber das ist mir in diesem Moment egal.
Zum Abschied sagt er mir Folgendes, was mich wirklich umgehauen hat: „Vielen Dank für Ihre Geduld. Ich hoffe, es war nicht komisch, dass ich Sie so angesprochen habe, aber das mache ich immer, weil mich die Dinge wirklich interessieren. Ich wünsche ihnen Glück und Liebe. Wissen Sie, warum Glück und Liebe? Glück, weil nichts sicher ist, nicht einmal für eine Minute. Seien Sie glücklich über jede Minute, die Sie bekommen. Und Liebe, weil nur Liebe alles heilen kann. Ängste, Leid und Depressionen. Mit Liebe ist alles möglich. Ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Gesundheit“. Und weg war er. Ich blieb verblüfft zurück und brachte nur ein abgehacktes „Ihnen auch“ raus. In der nächsten Sekunde fiel mir mein Morgen ein, der Podcast und die WOL Woche.
Wie uns Aufmerksamkeit und Geduld zu einem besseren Menschen machen kann. Diese Begegnung war so skurril und überraschend passend zu meiner Woche, dass ich mich hinterher gefragt habe, ob das wirklich so passiert ist oder ob mir mein Gehirn einen Streich gespielt hat. Ich werde es wohl nie wirklich wissen. Aber etwas Wichtiges habe ich dabei gelernt. Wenn Du dich ab und zu treiben lässt, dich wie Pippi Langstrumpf auf eine Parkbank legst, Löcher in den Himmel starrst und dabei den Umgebungsgeräuschen lauschst, öffnest Du dich für wunderbare Dinge. Für Begegnungen, Ideen und Leichtigkeit. Man könnte meinen, dass meine Geschichte eine Aneinanderreihung von Zufällen ist. Vielleicht. Aber ich glaube nicht mehr an Zufälle. Ich glaube daran, dass alles schon so da ist und wir uns durch das bewusste Lenken der Aufmerksamkeit und Fokussieren auf den Moment für neue Dinge öffnen und diese zulassen können. Ohne Hast und Eile, eben mit ein bisschen mehr Geduld, kommen die Dinge auf dich zu. Nimm dir ab und zu ein bisschen Zeit, um den Moment zu genießen. Und zwar voll und ganz. Es reichen fünf Minuten am Tag oder einmal 15 Minuten in der Woche. Hab Geduld und übe dich darin. Denn wer weiß, wie viele Minuten wir noch haben. Es ist Glück, auch nur eine weitere Minute auf diesem Planeten verbringen zu dürfen. Nutze jede einzelne und sei es mit bewusstem Nichtstun.
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